Leserbrief zu unserem Artikel „Noll: Bundesteilhabegesetz kommt!“ "Bei mir herrscht großes Unbehagen"
Mettmann · Zum Artikel "Noll: Bundesteilhabegesetz kommt!" ( http://www.schaufenster-mettmann.de/kreis/noll-bundesteilhabegesetz-kommt-aid-1.6019415 ) erreichte uns folgender Leserbrief.
"Die Bundesregierung ist mit dem Ziel angetreten, die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhabgesetz weiterzuentwickeln und aus dem bisherigen Fürsorgesystem herauszulösen. Leider ist der gesamte Referentenentwurf zu einem Einsparungsgesetz geworden. Gerade der Personenkreis Menschen mit einer geistigen oder Schwermehrfachbehinderung wird von der momentan viel diskutierten Anhebung der Vermögens- und Einkommensgrenzen gar nicht profitieren. Durch die Trennung von existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen und dem Vorrang der Pflegeversicherung werden sie sogar dauerhaft als Empfänger von Grundsicherungsleistungen und Hilfe zur Pflege (SGB XII) im Fürsorgesystem verbleiben.
Der Referentenentwurf sieht in § 99 SGB IX zum ersten Mal den Vorrang für Pflegeleistungen vor. Das ist ein Unding, denn es widerspricht damit dem heute gültigen und sinnvollen Grundsatz 'Rehabilitation vor Pflege' (§ 31 SGB XI). Die Leistungen der Pflegeversicherung sind gerade für den von uns vertretenen Personenkreis absolut nicht ausreichend und decken die notwendige Förderung und Teilhabe überhaupt nicht ab. Hinzu kommt, dass die Klienten bei dem Sozialamt Anträge auf 'Hilfe zur Pflege' stellen müssen, falls die pflegerische Versorgung nicht ausreichend ist und dafür muss immer die finanzielle Bedürftigkeit vorliegen. Wir befürchten, dass diese Menschen wegen des Vorrangs der Pflegeversicherung zukünftig kaum noch Leistungen der Eingliederungshilfe bewilligt erhalten. Hier ist der Gesetzesentwurf in meinen Augen sogar ein Rückschritt hin zu mehr Ausgrenzung und weg vom individuellen Bedarfsdeckungssystem.
Für den Bereich der stationären Versorgung schreibt der Entwurf weiterhin die pauschale Abgeltung in Höhe von 266 Euro pro Monat für pflegerische Versorgung fest. Zudem ist beabsichtigt diese Pauschalisierung auf ambulant betreute Wohngemeinschaften zukünftig auszudehnen. Hier ist also keine Änderung zugunsten der Nutzer geplant, sondern genau das Gegenteil. Zudem ist dies eine eklatante Benachteiligung von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu pflegbedürftigen Senioren, die in einer Wohngemeinschaft leben.
Mit dem Referentenentwurf ist für die stationären Einrichtungen unter der Überschrift 'Trennung von existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen' eine komplexe strukturelle Veränderung in der Finanzierungsystematik beabsichtigt. Zukünftig sollen Betreuungs- und Mietvertrag entkoppelt werden und das kommunale Amt für Grundsicherung die Kosten für den Wohnraum und den Regelbedarf nach SGB XII übernehmen. Der Träger der Eingliederungshilfe finanziert dann nur noch den Bedarf für die Betreuungsleistung. Leider stellt der Gesetzgeber in diesem Entwurf nicht sicher, dass die tatsächlichen Kosten, die bisher von der Eingliederungshilfe anerkannt wurden auch weiterhin finanziert werden. Im Gegenteil, wenn die Mehrkosten den festgelegten Prozentsatz übersteigen, dann müssen entweder die Kosten gesenkt werden oder der Klient ausziehen.
Bei mir herrscht großes Unbehagen, wenn ich daran denke, welcher Druck durch das geplante Gesetz künftig auf Menschen mit Behinderung ausgeübt wird. Ich sehe nicht, wie sich die finanziellen Vorgaben des Referentenentwurfes künftig mit der Lebensrealität behinderter Menschen vereinen lassen.
Bei mir und vielen meiner Kollegen herrscht zudem große Verunsicherung darüber, wie der leistungsberechtigte Personenkreis künftig aussehen wird. Die Vorgaben im Entwurf sind bisher so unklar formuliert, dass ich die Gefahr sehe, Menschen mit kognitiven Einschränkungen könnten durch das Raster fallen. Keine Teilhabe in fünf von neun Lebensbereichen ohne Unterstützung ist viel zu hoch gegriffen als Kriterium für die Leistungsberechtigung. Die Lebenshilfe fordert hier, dass nicht nur die aktuell unterstützten Menschen mit Behinderung eine Besitzstandsregelung erhalten, sondern eine Förderung auf Teilhabe bewilligt werden muss, wenn bereits in zwei Lebensbereichen Assistenz notwendig ist."
Herbert Frings
Landesgeschäftsführer
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