Politik und Verwaltung des LVR richten Entschuldigung an Betroffene LVR will Leid durch Arzneimittelstudien konsequent aufarbeiten

Kreis · Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) hat eine konsequente Aufarbeitung der Vorwürfe über Arzneimittelstudien in seinem Verantwortungsbereich angekündigt.

"Wir sind zutiefst erschüttert von den Berichten Betroffener, die in Heimen, Kliniken und Einrichtungen der Behindertenhilfe unfassbares Leid durch den unverhältnismäßigen Einsatz von Medikamenten erfahren haben. Verwaltung und Politik im Landschaftsverband entschuldigen sich bei allen Menschen, die durch den Einsatz von Medikamenten oder durch Arzneimittelstudien in den 1950er bis 70er Jahren gelitten haben. Wir werden die Vorkommnisse konsequent aufarbeiten und uns auch diesem Teil unserer Verbandsgeschichte offen stellen", sagten LVR-Direktorin Ulrike Lubek und Prof. Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Landschaftsversammlung Rheinland.

Die Krefelder Pharmazeutin Sylvia Wagner hatte in einem wissenschaftlichen Aufsatz öffentlich gemacht, dass es zwischen 1950 und 1970 bundesweit gängige Praxis war, Minderjährigen Impfstoffe und Psychopharmaka zu verabreichen. In Nordrhein-Westfalen sollen in mindestens fünf Einrichtungen Arzneimittel an Kindern und Jugendlichen getestet worden sein, oft mit verheerenden Folgen für die Opfer. Der LVR hat verschiedene mögliche Bezugspunkte zu den geschilderten Vorkommnissen: Als Landesjugendamt führt der Verband seit 1963 die Aufsicht über alle Jugendhilfe-Einrichtungen im Rheinland. Außerdem betrieb er schon damals eigene Jugendhilfe-Einrichtungen und psychiatrische Kliniken.

Der LVR beabsichtigt nun eine wissenschaftliche Untersuchung zu beauftragen, in deren Rahmen auch die noch vorhandenen Akten in den LVR-eigenen Einrichtungen ausgewertet werden. "Die gesetzlichen Aufbewahrungsfristen können leider in vielen Fällen dazu führen, dass Akten nicht mehr existieren. Wir prüfen aktuell, welche Akten noch nutzbar gemacht werden können. Ich bin zuversichtlich, dass Teile der Aktenbestände noch vorhanden sind und wünsche mir, dass sich auch verantwortliche Pharma-Unternehmen an der Aufarbeitung beteiligen", so Ulrike Lubek.

Voraussichtlich ab Januar 2017 wird die von Bund, Ländern und Kirchen initiierte "Stiftung Anerkennung und Hilfe" ihre Arbeit aufnehmen. Sie richtet sich an Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend zwischen 1949 und 1975 in Einrichtungen der Behindertenhilfe und psychiatrischen Einrichtungen Leid und Unrecht erfahren haben. Die Stiftung hat die Aufgabe, diese Betroffenen zu beraten und Geldleistungen zur Verfügung zu stellen. Die Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene soll im Rheinland voraussichtlich beim LVR—Landesjugendamt angesiedelt werden und diese Aufgabe wahrnehmen. Hier hat der LVR bereits von Anfang 2012 bis Ende 2014 ehemalige Heimkinder beraten und mit ihnen Vereinbarungen über Geld- und Sachleistungen aus dem Fonds Heimerziehung West abgeschlossen. Bis heute haben sich auf diesem Weg bereits 85 Menschen gemeldet, die in der fraglichen Zeit in Psychiatrien oder Behinderteneinrichtungen gelebt haben. Diese Menschen konnten bisher keine Leistungen aus dem Fonds Heimerziehung erhalten, da dieser nur für ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner von Jugendhilfe-Einrichtungen eingerichtet wurde. Möglicherweise kommen diese Personen jedoch nun für Leistungen der Stiftung Anerkennung und Hilfe in Betracht. Der LVR wird vor dem Start der neuen Stiftung diese Menschen informieren. Ebenso wird er die aus der Studie von Sylvia Wagner bekannten Personen ansprechen. Vor dem Start der Stiftung Anerkennung und Hilfe wird der LVR überdies versuchen, möglichst viele Betroffene zu erreichen, um sie darüber zu informieren, wie sie Kontakt aufnehmen können.

Der LVR setzt sich seit vielen Jahren sehr intensiv und offen mit seiner eigenen Geschichte auseinander. Bereits im Jahr 2011 ließ der Kommunalverband seine Rolle als aufsichtsführendes Landesjugendamt und Träger eigener Jugendheime in den Jahren 1945-1972 von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern untersuchen. In dieser Studie sowie in einer weiteren für das Frühjahr 2017 angekündigten Untersuchung wird auch der Einsatz von Medikamenten in Jugendhilfe-Einrichtungen und Heimen beleuchtet, jedoch nur als ein Teilaspekt der Gesamtuntersuchung. Dies will der LVR mit der Beauftragung der neuen Studie nun ändern. Diese soll explizit den Einsatz und die Erprobung von Medikamenten an Kindern und Jugendlichen in den LVR-eigenen Einrichtungen in den Blick nehmen.

(Schaufenster Mettmann)